Um Neun Uhr Fünfundzwanzig entwerte ich meine Tageskarte in Friedrichshagen. Es ist der letzte Tag der Unterschriftenaktion für das Volkbegehren Nachtflugverbot. Am Ostkreuz frage ich einen Bahnmitarbeiter nach dem besten Weg zum Platz der Luftbrücke. Ich bedanke mich, frage zum Abschluss, ob er auch unterschreiben möchte. Bedauernd winkt er ab, er sei Brandenburger. Drei weitere Bahnmitarbeiter nahen, bauen sich bedrohlich vor mir auf: Aber nicht auf dem Bahnsteig sammeln! Keine Sorge, ich habe nur nach dem Weg gefragt. Schon bin ich weg.
Auf dem Bahnsteig der Ringbahn sehe ich einen Flyer aus einer Hemdtasche ragen. Ich frage den Besitzer des Hemdes, was er denn mit dem Flyer vorhabe. Da seien Unterschriften für das Volkbegehren Nachtflugverbot, erklärt er mir, die würde er jetzt noch zur Post bringen. Ich kann den Mann überzeugen, dass die Post die Zustellung niemals bis 24 Uhr schafft. Fünf Unterschriften immerhin!
In Neukölln steige ich in die U-Bahn um. Auf der Treppe eine junge Frau. Ich möchte unterschreiben. Ich halte ihr das Klemmbrett hin und lasse sie unterschreiben. Seit meinem Aufbruch in Friedrichshagen habe ich ungefähr 20 Unterschriften gesammelt.
Zehn Uhr Dreißig, Platz der Luftbrücke. Ich gehe zum Haupteingang des Flughafens. Hier soll man sich für den Marathon anmelden können. 40.000 Läufer werden erwartet. Das sollte eine wahre Goldgrube für Unterschriftensammler sein! Gähnende Leere, Anmeldung erst ab 12 Uhr, verstreut ein paar Menschen auf dem riesigen Gelände. Ich spreche einige an. Sorry, I am not from Berlin und verständnislose Blicke. Alles Touristen! Wieso wurde dieser Ort als gute Sammelmöglichkeit empfohlen? Empört rufe ich bei der FBI in Friedrichshagen an. Freundliche Irritation am anderen Ende, man habe mein Anliegen noch nicht ganz verstanden. Ich entschuldige mich und beende das Gespräch. Ich sollte mein Verhalten besser überdenken!
Ich entscheide bis zwölf Uhr auf der Bergmannstraße zu sammeln. Es läuft ganz gut, alle zwei
Minuten eine Unterschrift. Meistens sind es Frauen. Ich besorge mir einen coffee to go im Cafe Einstein und gehe Richtung Marheinikehalle. Ich stelle mich an den westlichen Eingang. Meine Tasche füllt sich mit Unterschriftenlisten. Die Kreuzberger scheinen aus Prinzip zu unterschreiben.
Ein Anruf. Ob ich noch nach Zehlendorf kommen könne? Der Sammler aus Lichtenrade stehe bald ganz alleine am S-Bahnhof Zehlendorf. Ich überlege kurz und vertröste ihn auf den Nachmittag.
Zurück am Tempelhofer Flughafen. Der Platz hat sich gefüllt. Ein Reisebus aus Holland steht davor, weiterhin Autos mit dänischem oder holländischem Kennzeichen, Franzosen sind auch dabei. Die Menschen strömen zum Eingang. Mütter, Väter und Kinder, Ehepaare, Männergruppen. Alle mit Rucksäcken und großen Taschen, alle in völlig berlinuntypischer Kleidung. Ich frage im Sekundentakt ob sie für das Volksbegehren Nachtflugverbot unterschreiben möchten. Erheiterte Blicke, schon sind sie vorbei. Ob sie wohl verstehen, was auf dem Plakat steht, das vor meiner Brust hängt? 0h, you crazy Berliners, I just love you! strahlt mich ein Amerikaner an. Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass ich etwas für den Tourismus tue. Dann endlich ein Berliner. Ein älterer Herr, er habe auch schon gesammelt, es sei eher schleppend bei ihm gelaufen, aber das hier sei ein guter Platz, einfach ideal zum Sammeln. Leise Zweifel bei mir, aber er wird schon recht haben, ich harre aus. Sportliche Spanier strömen zu Tausenden an mir vorbei. Meine Güte, halb Spanien scheint am Marathon teilzunehmen! Wieder ein Berliner, er macht einen freundlichen Eindruck, er gibt zu verstehen, dass er unterschreiben möchte und geht dann mit dem Kugelschreiber einfach weiter. Wahrscheinlich ist es als Spaß gedacht, aber ich bin nicht zu Späßen aufgelegt. Das hier ist Ernst! Ich fauche ihn an, er solle mir den Stift zurückgeben. Er ist beleidigt, dann würde er auch nicht unterschreiben. Pech gehabt! Und weiterhin keine Unterschriften. Ich gebe auf, gehe zurück zur Bergmannstraße.
Vor Kaisers sitzt ein Mann auf der Fensterbank, in der Hand eine Bierflasche, ich solle mal hergeben, er würde alles unterschreiben. Ich reiche ihm Stift und Klemmbrett. Bitte erst den Nachnamen und dann den Vornamen, in Druckbuchstaben fürs Bezirksamt, hier kommt das Geburtsdatum hin. Was, das Geburtsdatum wollen se auch noch wissen? Zögern, der Stift schwebt über dem Blatt. Und hier die Straße und die Hausnummer, bitte auch in Druckbuchstaben. Ach, der Mann überlegt, wo wohne ich denn, dann fällt es ihm wieder ein. Für die Postleitzahl gibt es ein eigenes Feld. Heute ist der 28.9. Und jetzt die Unterschrift. Grinsend schaut er mich an, ich bekomme aber jetzt keine Waschmaschine, oder? Der Mann, mit dem ich verheiratet bin, beruhigt in solchen Fällen. Nein, nein, keine Waschmaschine, gerade sei eine Schrankwand gekauft worden. Ich hingegen versichere nur, dass ich sehr vertrauenswürdig sei.
Vor einem Cafe sitzen eine Menge Leute. VOLKSBEHGEHREN NACHTFLUGVERBOT! MÖCHTE NOCH JEMAND UNTERSCHREIBEN! LETZTE GELEGENHEIT! Freundliches Kopfschütteln, bei manchen keine Reaktion. Eine junge Kellnerin mit Akzent, ja, ja, sie sei Berlinerin, sie würde jetzt sofort unterschreiben. Dann raunt sie ihre Gäste an, sie sollten unterschreiben. Einige der Gäste unterschreiben.
Das Handy vibriert. Ob ich heute noch in Köpenick am Bahnhof stehen würde. Man wolle noch 5 Unterschriften abgeben. Ich überlege. Wie machen wir das jetzt? Nein, ich sei heute nicht mehr in Köpenick. Könne er die Unterschriften in der Remise abgeben? Wo die denn sei? Ich gebe die Adresse durch. Ja, ja, das lässt sich machen.
Weiter geht’s. Freundliches, manchmal unwilliges Kopfschütteln. Dann werde ich von 3 Handwerkern angehalten. Einer will unterschreiben. Es dauert. Die Kollegen ziehen ihn auf, ob er denn überhaupt schreiben könne? Er entschuldigt sich, in der Schule habe er nur Tanzen und Musik gehabt, deshalb würde es länger dauern. Ich bedanke mich. Der nächste unterschreibt. Er wohne in Wendenschloss, da würde ihm der Lärm mächtig auf die Nerven gehen. Neben mir die Vollbremsung eines Fahrrads. Ich drehe mich zur Seite. Die Frau fällt mir fast um den Hals. Wie gut, dass du hier stehst! Das erspart mir den Gang zum Bezirksamt!
An der Marheinikehalle ist es lebhafter geworden. Viele stehen für ein Eis an oder sitzen in der Sonne an den Tischen und essen. Interessierte Blicke, keiner unterschreibt. Ich schaue neidisch auf einen Teller mit griechischen Spezialitäten und kaufe mir ein Stück Gemüsequiche, das ich im Stehen esse. Schmeckt auch gut!
Auf dem Spielplatz hinter der Markthalle spreche ich einige Eltern an. Kurzes Überlegen von einem Vater, ach nein, jetzt gerade wolle er nicht unterschreiben. Entschuldigendes Lächeln. Wann denn dann? denke ich.
Das Handy vibriert. Ja, hallo! Wir haben doch zusammen am Alexanderplatz gesammelt. Ich rufe aus Zehlendorf an. Ich habe hier noch achtzig Unterschriften, aber das Bezirksamt hat schon um dreizehn Uhr geschlossen. Was mache ich jetzt? Kein Problem! Entweder wirfst du die Listen in den Briefkasten, noch besser wäre es, sie dem Kollegen zu geben, der am S-Bahnhof Zehlendorf steht. Da steht einer? Ja, bis heute Abend noch. Okay, noch viel Erfolg beim Sammeln! Gleichfalls!
Nachdem ich die Bergmannstraße ein paar Mal nach rechts und links gegangen bin, wird mir ein bisschen langweilig. Ich versuche den Mehringdamm. Ein Mann mit Dreadlocks, Ring in der Nase, ausgefransten Hosen und kaputten Schuhen ereifert sich. Er wisse sowieso nicht, was das ganze solle. Die da oben hätten doch einen Knall. Man habe doch zwei gut funktionierende Flughäfen, wieso man da noch einen dritten brauche. Sie sollten mal lieber mehr Geld in die Sozialleistungen stecken. Er unterschreibt.
Jetzt tun mir die Füße weh. Im Cafe Einstein bestelle ich einen Kaffee. Zucker könne ich mir von der Theke holen. Ein müder Blick, der Kellner bringt mir den Zucker an den Tisch. Danke!
Ich denke an die Punker in Steglitz, die unterschrieben haben und die Leute auf der Schlossstraße, die nicht unterschrieben haben. Ich denke an die Tegel-Experten. Die netten, die in Tegel aufgewachsen waren und mir versicherten, sie hätten weder psychische noch physische Schäden davon getragen und die nicht so netten, die meinten, den Lärm hätten sie siebzig Jahre ertragen, jetzt seien mal andere dran. Ich denke an die vielen Antworten, die ich in den letzten Tagen erhalten habe. Ich fliege gerne und Ich fliege NUR nachts und an die vielen Menschen, die mir dankbar waren für meine Sammelbereitschaft. Ich denke an die Brandenburgerin, die mir 20 Berliner Listen in die Hand drückte, die sie gesammelt hatte und an den Tempelhofer, der den Flugzeugpassagieren beim Frühstück in die Gesichter schauen konnte und ihnen fast eine Tasse Kaffee hätte herüber reichen können.
In der S-Bahn zurück nach Friedrichshagen spricht mich ein Mann an. Er sei Redakteur des Berliner Kuriers. Er habe einen Artikel über den letzten Tag der Unterschriftensammler und ihre Geschichten schreiben wollen. Seine Chefs seien aber dagegen gewesen. Bedauerndes Schulterzucken von ihm, große Zustimmung von mir.
Ich gucke ihn an und sage, was glauben Sie, was ich Ihnen alles für Geschichten erzählen könnte!
Herzliche Grüße
Sibylle Freudenberg